Das Fernweh

Es ist früh am Abend und du hast es dir nach einem aufreibenden Tag auf deiner Couch gemütlich gemacht. Wie üblich sitzt du auf der linken Seite der Couch, deren Armlehne im Laufe der Zeit eine Kuhle für dein spitzes Knie ausgeformt hat. Vor dir auf dem niedrigen Tisch steht das immer noch halb gefüllte Wasserglas von gestern, das du vergessen hast wegzuräumen. Wenn du ganz genau hinsiehst, kannst du unter dem Tisch zwei zusammengerollte Socken erkennen, die du vor einigen Tagen mürrisch abgestreift und von dir geschoben hast, während du auf der Couch saßt. Auf dieser Couch. Dieser immer gleichen, langweiligen Couch. Mit einer Delle dort, wo du dich jeden Abend hinsetzt. Kann es noch eintöniger werden? Gibt es nicht anderes?

Zwanzig Minuten später scrollst du auf deinem Handy durch die Hotelangebote auf Teneriffa. Ein Bekannter war vor kurzem dort und hat unablässig von der Insel geschwärmt. Nur 200 Meter Fußweg bis zum Strand, nicht schlecht. Aber ist es dort nicht ein bisschen zu heiß? Du veränderst die Suchparameter auf Schottland. Das ist zwar keine Insel, aber Küste hat es genug. Oder doch lieber Norwegen? Die vielen Fjorde anschauen? Unschlüssig bleibt dein Daumen über dem Display hängen, während deine Gedanken abschweifen. Es gibt so viele wunderbare Orte und Länder, die du bereisen könntest.

Abbildung einer Fjordlandschaft in Irland, zwei Schafe im Vordergrund

Während du immer tiefer in deiner Couch versinkst, träumst du von einem malerischen Sonnenuntergang an einem tropischen Strand. Vor dir steht ein Cocktail mit Schirmchen und rechts neben dir sitzt eine umwerfend schöne Frau. Doch ja, das wäre schon was. Und am nächsten Tag geht ihr gemeinsam unter den blühenden Kirschbäumen in Japan spazieren. Das wolltest du schon immer mal sehen. Genauso wie die Niagarafälle. Und wenn du gleich einmal da drüben bist, kannst du noch in Las Vegas vorbeifahren und im Casino ein paar Tausend Dollar erspielen, damit du den Wanderurlaub in Schweden bezahlen kannst, den du seit Jahren machen wolltest. Oder doch die Kreuzfahrt auf dem Nil?

Du seufzt und die Feder in der Couch unter dir seufzt mit. Wenn wir doch nur genauso schnell von einem Ort zum anderen reisen könnten wie unsere Gedanken! Soeben stehst du noch auf dem Tafelberg in Kapstadt und bewundert die Aussicht, und nur einen Wimpernschlag später erheben sich die Pyramiden von Gizeh vor dir. Nein, lieber die von Teotihuacán! Fantastisch! An nur einem Tag reist du von den Gletschern Islands über die Wolkenkratzer von New York zu den Strandhütten auf Bali. Den Sonnenaufgang siehst du dir auf dem Kilimandscharo an, die Siesta verbringst du in einem gemütlichen Haus in Andalusien, den Sonnenuntergang genießt du auf einer Yacht im indischen Ozean und schließlich zauberst du dich zur Mitternachtssonne in Tromsø.

Ja, zaubern müsste man können. Oder einfach nur die richtige Technik erfinden. Die Couch knarrt empört, als du dein Bein anziehst und es Ferse voran in die Ritze zwischen zwei Polstern platzierst. Wie hieß das nochmal? Beamen? Aber das ist wohl Zukunftsmusik. Hmm. Reisen. Zukunft. Aber ja! Eine Zeitreise! Dann reist du halt zuerst in die Zukunft und dann kannst du dich all den verlockenden Orten dieses Planeten widmen. Nichts einfacher als das! Mit Begeisterung ziehst du einen guten Science-Fiction-Roman aus dem Bücherregal neben dir und beginnst zu lesen. Innerhalb weniger Minuten befindest du dich geistig nicht nur in der Zukunft sondern in einer ganz anderen Welt, voller Erlebnisse, Gefahren und unbekannter Wesen. Die Reise nach Norwegen ist vergessen.

Ein weiterer Abend auf der Couch beginnt.