Das kommt mir griechisch vor

Ich saß vor kurzem an einem Vierertisch in der Bibliothek und sah grübelnd aus dem Fenster, während ein unvollständiger Text auf dem Bildschirm meines Laptops flimmerte. Eine Formulierung darin gefiel mir nicht und ich suchte nach Alternativen. Sollte ich nur dieses eine ungünstige Wort austauschen? Oder doch besser den ganzen Nebensatz überarbeiten? Irgendwie klang in meinem Kopf alles blöd. Äußerst interessant hingegen klang das Gespräch meiner beiden Tischnachbarn, das sich in meine – zugegebenermaßen nicht sonderlich gefesselte – Aufmerksamkeit hineinschob. Darin ging es um Eigenwerte, Jacobi-Matrizen und Transformationen. Sofort erkannte ich, dass hier höhere Mathematik betrieben wurde! Ein Schmunzeln überzog mein Gesicht. Als die eine Studentin nach griechischen Buchstaben fragte, die sie in ihrer Gleichung verwenden könnte, bot ich hilfreich eine kleine Liste an: Alpha, Beta, Gamma, Delta, Epsilon.

Abbildung der ersten sechs Zeichen des griechischen Alphabets

Nein, ich kann das griechische Alphabet nicht komplett aufsagen, vor allem nicht in Reihenfolge. Dafür bräuchte ich dann doch den Blick in ein Tafelwerk. Dennoch sind mir viele der verschnörkelt wirkenden Buchstaben im Gedächtnis geblieben. So ein Mathematikstudium ist eben voll von den Kerlchen. Phi hier, Chi da und Psi ist auch nicht weit weg. Mit Zahlen rechnen nur die Anfänger, wir arbeiten mit Zeta, Theta und Eta! Oft habe ich mich gefragt, ob das lateinische Alphabet nicht genug Zeichen enthält, dass man auf das griechische zurückgreifen muss? Eine schnelle Recherche in einem schlauen Nachschlagewerk ergibt 26 zu 24 Buchstaben, daran kann es wohl nicht liegen. Im Gegenteil, auch insgesamt 50 Zeichen schienen in einigen Formeln nicht auszureichen: Also wurden an die neckischen X und Xi noch Indizes angehängt! Damit auch wirklich keiner mehr durchsieht. Wenn ich so in meine alten Aufzeichnungen blicke, kommen mir einige Formeln mächtig spanisch vor. Äh… griechisch. Lateinisch? Buchstabensuppe einmal umgerührt?

Zum Glück muss man nicht auch noch Griechisch studieren, um sich mit höherer Mathematik zu beschäftigen. Sinnvolle Wörter werden mit den geschwungenen Buchstaben eh nicht aufgeschrieben. Nur Formeln. Viele Formeln. Und so tanzen Omikron und Omega vergnügt einen Walzer über das Papier. Sie hüpfen an Lambda und Delta vorbei, die heftig darüber diskutieren, wer die schönere Pyramide abgibt. In der Ecke sitzen das zarte Ny und das kleine My und freuen sich über den hübschen Reim. Das mächtige Sigma schlingt seinen Arm um alle und meint: „In Summe sind wir echt eine dufte Truppe, oder?“

Die Studentin bedankte sich und nahm Alpha für ihre Formel. Ich fragte höflich, ob die beiden denn Mathematik studierten? Nein, Physik. Na, ist ja fast das Gleiche. Zumindest was die begeisterte Verwendung von griechischen Buchstaben anbelangt.