Auf einer einsamen Insel

Stellen Sie sich vor, wie warmes Sonnenlicht vom Himmel fällt und sich glitzernd in den sanften Wellen des azurblauen Wassers bricht. Unter dem kühlen Schatten dreier Palmen sitzen Sie in einem gut gepolsterten Korbsessel und graben die Füße im weichen Sand ein. Können Sie hören, wie der streichelnde Wind Ihnen das leise Rauschen der Wellen zuträgt, die an den Strand schwappen? Die Temperatur ist genau richtig, Sie fühlen sich pudelwohl. Diese zauberhafte Insel mitten im tropischen Ozean ist einfach perfekt. Und das Beste: Sie haben all das ganz für sich allein!

Abbildung einer tropischen Insel mit Palmen umgeben von blauem Wasser

Was sich anhört wie eine kitschige Beschreibung aus einem Werbeprospekt ist für einige Menschen der Traum schlechthin. Eifrig erstellen sie Listen von den Dingen, die sie machen würden, wenn sie nur endlich auf dieser Insel wären. Endlich das dicke Buch lesen, das schon seit einem dreiviertel Jahr auf dem Nachttisch Staub ansammelt. Endlich das wunderbar detailreiche Modell vom Eiffelturm fertig aufbauen. Endlich den kuschelig weichen Pullover stricken, der eigentlich schon vergangenen Winter hätte fertig sein sollen. Endlich das Set mit 84 Acrylfarben ausprobieren. Endlich den Spanisch-Sprachkurs mit CD durcharbeiten. Endlich.

Vermutlich verbinden diese Menschen die einsame Insel mit viel Zeit und ungestörter Ruhe. Schließlich gibt es dort keinen Straßenlärm, keinen Aufgaben verteilenden Chef, kein Gezeter aus der Wohnung nebenan, kein Warten an überfüllten Supermarktkassen, keine klingelnden Telefone. Nur das Plätschern der Wellen, das Wiegen der Palmblätter und Zeit. Viel Zeit.

Ich will euren Traum vom tropischen Paradies ja nur ungern zerstören, aber habt ihr Robinson Crusoe gelesen? Der Protagonist dieses Klassikers der Weltliteratur muss hart um sein Überleben kämpfen. Die „viele Zeit“ verbringt er mit dem Aufbau eines sicheren Unterschlupfs, dem Anbau von Getreide, der Zucht von Ziegen. Und die viel gepriesene Einsamkeit? Nun ja, sie macht ihm sehr zu schaffen.

Natürlich habe auch ich ein paar angefangene Projekte, die ich gern zu Ende bringen würde, für die ich aber irgendwie keine Ruhe und Gelegenheit finde. Und natürlich hätte ich nichts dagegen, an einem schönen Strand zu sitzen und dem Rauschen des blau leuchtenden Ozeans zuzuhören, während ich lese, sticke, male, bastle, nähe, schreibe. Allerdings wäre es mir schon recht, wenn es außer mir noch andere Menschen auf der Insel gäbe. Auf die Dauer sind Selbstgespräche nämlich ziemlich langweilig. Und ein perlender Fruchtcocktail schmeckt gleich viel besser, wenn man dabei Gesellschaft hat.

Da fällt mir ein: Wo bleibt eigentlich mein Getränk? Ich sitze hier schon ewig in meinem Korbsessel und warte! Ach so, ja. Ich bin ja zu Hause. Allein.