Die Briefmarkensammlung

Ich erhielt unlängst einen Brief von einer lieben Freundin aus Frankreich. Sie mag kitschige Aufkleber, bunten Glitzer und jede Menge Schnörkel. Dementsprechend war der Umschlag, der von einem leuchtenden Blaugrün ist, mit all diesen Dingen verziert. Ein wahres Fest für die Augen. Natürlich darf auf so einem Werk nicht irgendeine schnöde Briefmarke kleben und so strahlen kleine stilisierte Erdbeeren in einem hübschen Farbkontrast in der rechten oberen Ecke des Papiers. Vermutlich hatte sie bei der Auswahl dieser Marke vergessen, dass ich Erdbeeren nicht mag. Oder es gab keine Himbeeren.

Abbildung einer Briefmarke auf einem Umschlag, weitere Briefmarken im Hintergrund

Viel mehr als die Wahl des Motivs faszinierte mich das Objekt selbst. Wie selten es doch geworden ist, dass auf einem Umschlag überhaupt eine Briefmarke klebt! Bei vielen geschäftlichen Briefen wird nicht nur die Adresse sondern auch das Porto aufs Papier gedruckt. Statt Schmetterlingen, Tierbildern oder berühmten Persönlichkeiten starren uns QR-Codes an. Praktische, unpersönliche Kästchen für den Massenversand. Selbst auf den Bildbriefmarken der heutigen Zeit finden sich diese verschlüsselten Frankierungen. Was wohl ein Philatelist von diesen wild aussehenden Rechtecken hält?

Ich selbst habe nie wirklich Briefmarken gesammelt. In meiner Familie gab es ein dunkelgrünes, etwa A4-großes Buch mit dünnen Bändern aus durchsichtiger Plastikfolie, hinter denen man die bunten Rechtecke mit ihren gezähnten Rändern einstecken konnte. (Einige Dreiecke waren auch darunter, wenn ich mich recht entsinne.) Als Kind habe ich öfter darin geblättert und mich an den vielfältigen Motiven erfreut. Nachdem ich lesen gelernt hatte, konnte ich außerdem erstaunt bemerken, wie weit einige der Marken durch die Welt gereist waren. Im Laufe der Zeit habe ich die eine oder andere Briefmarke hinzugefügt, aber eine Sammelleidenschaft hat sich nicht entwickelt.

Möglicherweise ist das auch gut so, denn was will man denn heutzutage noch sammeln? Gut, einige Länder geben Sondereditionen von Briefmarken heraus, die sich explizit an den Liebhaber und Sammler richten. Für die Nicht-Philatelisten unter uns erscheint die Akquise dieser Marken jedoch recht mühselig. Leider kann man nicht mehr so wie früher in den eigenen Briefkasten schauen und bunte Bilder aus anderen Ländern darin finden. Da schrieb der Freund eine Postkarte aus Tunesien, wo er gerade Urlaub machte. Die Tante aus Amerika schickte ihren jährlichen Weihnachtsgruß. Dank einer Zeitschrift, die internationale Brieffreundschaften vermittelte, erhielt man auch mal einen Brief aus England oder Ecuador. Und heute? Noch viel mehr sind unsere Kontakte in der Welt verteilt, unser Album müsste Briefmarken aus den interessantesten Ländern aufweisen, aber wir erhalten keine Briefpost. Wir schreiben lieber Emails. Chatten in der App auf dem Handy. Organisieren einen Videoanruf. Es hat doch keiner mehr Zeit für einen Brief!

Mit dem zunehmenden Wegfall des Briefeschreibens und der Bildbriefmarken selbst wird wohl kaum noch einer eine neue Sammlung aufbauen. Und so hat nicht nur die Philatelie ein Nachwuchsproblem, es fehlt auch ein neuer Grund, die Angebetete nach der erfolgreichen Verabredung noch zu sich einzuladen. Was will man ihr denn zeigen, wenn man keine Briefmarkensammlung mehr hat? Die Handyladekabel?