Die richtige Atmosphäre

Bild einer Kaffeetasse und eines Teilchens

Eine Freundin erzählte mir davon, wie sie früher gelernt habe. Sie konnte nicht einfach zu Hause am Schreibtisch sitzen, das war zu ruhig und eintönig. Also lernte sie im Bus, am Rand des Fußballplatzes, in der Cafeteria. Hauptsache es war etwas los. Später in der Klausur holte sie die Erinnerungen wieder hervor: „Diese Formel habe ich an dem regnerischen Tag gelernt, als die Scheiben des Busses so beschlagen waren, dass alles verschwommen aussah. Jene Vokabel habe ich mir eingeprägt, als Mario gerade ein Eigentor schoss. Und diesen Merksatz habe ich mir ausgedacht, als ich gerade Streuselkuchen aß.“ Ihr Lernverhalten fällt in die Kategorie des motorischen Lernens. Dabei werden die Dinge „begriffen“, also angefasst. Um sich etwas einzuprägen, sind daher Experimente oder der Erfahrungsaustausch mit anderen am besten. Auch Gefühle können Lerninhalte langfristig verinnerlichen. Da sich Vokabeln oder langwierige Formeln nur schwer in Experimente packen lassen, „fühlte“ sie sich stattdessen in ihre Umgebung ein oder „begriff“ die Tischplatte in der Cafeteria. Eine immer gleiche und ruhige Lernumgebung hätte für sie nicht funktioniert.

Mir fiel all das vor kurzem ein, als ich über die richtige Atmosphäre für meinen kreativen Prozess nachdachte. Zwar unterscheiden sich Lernen und Kreieren wesentlich – bei einem der Prozesse soll etwas in den Kopf hinein, beim anderen heraus – dennoch lassen sich Parallelen finden. Ein Mensch muss sich die Dinge visualisieren, um sie sich zu merken; analog könnte ein Autor den Text vor seinem inneren Auge sehen. Ein anderer Mensch muss ein Gedicht hören, um es auswendig zu lernen; ein Komponist summt sich eine Melodie vielleicht mehrfach vor, bevor sie sich manifestiert. Und so wie es für die verschiedenen Lerntypen ideale Umgebungen gibt, so eignen sich vielleicht bestimmte Orte für die unterschiedlich ausgeprägten kreativen Köpfe. Zwar finde ich es spannend mir zu überlegen, wie dieser Ort für einen „motorischen“ Künstler aussehen könnte, vorrangig interessierte mich bei meinen Gedankengängen jedoch meine eigene Umgebung. Das, was sich für mich passend anfühlen könnte.

Nun, ein ordentlicher Stuhl, an dem ich nicht kleben bleibe und der keine Rückenschmerzen auslöst, fühlt sich schon ziemlich gut an. Was könnte ich neben passendem Mobiliar noch gebrauchen? Eine Steckdose in der Nähe. Ein leckeres Getränk in einem auslaufsicheren Behälter. Eine warme Strickjacke zum Einkuscheln für kalte Tage. Und… ja, was fehlt eigentlich? Ich hab’s, Geräusche! Es ist hier einfach zu ruhig! – Diese Erkenntnis hat mich überrascht, da ich als auditiver Lerner auf eine möglichst stille Umgebung angewiesen bin. Als Schreiber jedoch mag ich es, wenn mich ein Klangteppich umgibt. Damit meine ich nicht, dass ich mich in eine geschäftige Fußgängerzone setzen könnte, das wäre mir viel zu laut und chaotisch. Nein, die Klänge, die mir gefallen, lassen sich wohl am besten unter der Kategorie weißes Rauschen zusammenfassen: Dauerregen, knisterndes Kaminfeuer, Meeresrauschen. Außerdem bin ich den Geräuschen eines Cafés nicht abgeneigt. Zum Glück muss ich deswegen weder Wettergott spielen noch in überfüllten Lokalen herumsitzen, denn ich kann mir die Atmosphäre eines verregneten Tages in einem Kaffeehaus dank Audiodatei in mein Büro holen. Ach, es ist wunderbar! Das Klappern von Kaffeelöffeln, das Murmeln unverständlicher Gespräche, im Hintergrund das sanfte Tröpfeln eines Landregens. Ganz ohne Menschen und Stress! Leider auch ohne Kellner, der mir eine heiße Schokolade bringt. Man kann eben nicht alles haben.