Die ungelesenen Bücher
Eine Freundin fragte mich, was denn gerade so in meinem SUB läge. „Mein SUB?“, entgegnete ich verwirrt zurück. „Na, dein Stapel ungelesener Bücher!“, kam die Antwort. Verblüfft fiel mir nicht ein, wie ich darauf reagieren sollte. Mein Stapel ungelesener Bücher ist nämlich riesig. Ja, regelrecht gigantisch. Und das geht so:
Als Jugendliche war ich ein großer Fan der Werke von Stephen King. Mir gefiel die Mischung aus Nervenkitzel, schrägen Einfällen und schwarzem Humor. Besonders in seinen Kurzgeschichten zeigt sich des Meisters Talent für makabre Begebenheiten. Und so war ich mal wieder in der Stadtbibliothek unterwegs, hungrig nach Lesestoff, als ich seinen Roman „Cujo“ im Regal stehen sah. Natürlich durfte das Buch mit nach Hause! Und so lag ich dann auf meinem Bett, schlug das gute Stück auf und fing an zu lesen. Keine zwanzig Seiten später legte ich den Roman gelangweilt beiseite. Und das soll ein Stephen King sein? Also da hat er echt bessere Bücher geschrieben! Das hier jedenfalls ging ungelesen zurück.
Meine Schwester übergab mir ein Buch, das sie doppelt hatte und das ihr gut gefiel. „Wirklich außergewöhnlich!“, sagte sie dazu. Und so nahm ich bei nächster Gelegenheit den Roman in die Hand und fing an zu lesen. Doch ich kam nicht weit. Ich glaube, dass meine Schwester und ich einen sehr unterschiedlichen Geschmack haben, was Bücher betrifft, denn was sie als außergewöhnlich beschrieb erschien mir langweilig und inhaltsleer. Auch die Charaktere fesselten mich nicht. So sehr ich mich auch bemühte, ich konnte mich nicht in diesen Roman einlesen. Und so steht er immer noch in meinem Bücherregal. Ungelesen.
Vor kurzem spazierte ich durch die Reihen der Bibliothek und studierte die Buchrücken. Ich suchte gerade nichts Spezielles und nahm einfach heraus, was interessant aussah. Oha, dachte ich, eine Geschichte von einer Kolonie auf dem Mond. Der Einband versprach Krimi und Science Fiction in einem, da bin ich doch dabei! Also flink zur ersten Seite geblättert und schnell angelesen. Keine fünf Minuten später stellte ich das Buch angewidert zurück ins Regal. Die Sprache darin war einfach schrecklich und abstoßend. Ich wusste sofort, diesen Schund würde ich nicht lesen. Aber es ist ja auch nicht weiter schlimm, wenn dieses Buch ungelesen bleibt, denn so eine Bibliothek hat schließlich eine große Auswahl, nicht wahr?
„Wie soll ich nur all diese ungelesenen Bücher zählen?“, fragte ich mich. Und welche sind denn gerade erst dazu gekommen? Ich merke mir doch die Titel von Büchern nicht, die ich gar nicht lese! Meine Verwirrung muss sich in meinem langen Schweigen ausgedrückt haben, denn meine Freundin griff helfend ein: „Du warst doch letztens auf der Buchmesse. Welche Bücher hast du denn mitgebracht? Erzähl mir nicht, du hättest alle schon gelesen?!“. Oh. Diese Art von ungelesenen Büchern! In Gedanken schlug ich mir ob meiner Begriffsstutzigkeit an die Stirn. Also dieser spezielle Stapel ist bei mir nicht sehr groß. „Nun, da wäre dieser eine Roman von…“.
Ich wage nicht darüber nachzudenken, wie groß der Stapel Bücher wäre, die ich nicht zu Ende gelesen habe. Wahrscheinlich sind es so viele, wie es Gründe gibt, warum ich sie beiseitegelegt habe: Seltsame Sprache, flache Figuren, überkomplizierter Aufbau, ausgedehnte aber inhaltsarme Beschreibungen, mangelnde Spannung, zu viele Klischees, unglaubwürdige Ereignisse, und so weiter. Das Verblüffende ist, dass andere das Buch gerade aus dem Grund lieben, der mich zum Weglegen desselben bringt. Aber über Geschmack lässt sich nun mal nicht streiten. Und so wird der Tag kommen, an dem jemand mein eigenes Werk zur Seite legt und nicht zu Ende liest. Ich kann es nicht allen recht machen. Ich schreibe lieber so, wie ich es will. Es gibt bei mir nämlich auch einen Stapel ungeschriebener Bücher.