Neulich in der Bibliothek

Im großen Lesesaal der Bibliothek sitzen die verschiedensten Menschen. Da gibt es jene, die zehn Bücher gleichzeitig aufgeschlagen haben, aber in keinem davon lesen können, da sie sie unter Zetteln, Stiften und Ringblöcken zu begraben pflegen. Auf anderen Arbeitsplätzen hingegen halten die Benutzer penible Ordnung: Die Bücher liegen parallel zur Schreibtischkante der Größe nach sortiert auf einem perfekten Stapel. Falls Stifte vorhanden sind, so liegen diese säuberlich aufgereiht daneben, natürlich auch der Größe nach sortiert. Ab und zu findet sich in den Reihen auch ein Leser, der tatsächlich nur ein Buch vor sich liegen hat und aufmerksam darin vertieft ist.

Bild eines Stapels englischsprachiger Bücher

Aber was rede ich da von Büchern? Zwar enthält eine Bibliothek für gewöhnlich sehr viele Exemplare, doch so wie mir scheint, benötigt der Standardnutzer von heute diese nicht mehr. Fast ausnahmslos steht auf jedem Arbeitsplatz ein Laptop, Bücher gibt es nur wenige. Stand ein Interessierter früher auf, um einen wissenswerten Fakt in einem Lexikon nachzuschlagen, so öffnet er heute eine Suchmaschine in seinem Browser und findet die gewünschte Information, ohne den Platz verlassen zu müssen. Die Mitschriften zur verpassten Vorlesung von Mittwochmorgen werden vom Zentralserver der Universität heruntergeladen statt vom Sitznachbarn mühsam abgeschrieben. Eine passende Illustration für den Absatz über die Glockenkurve der Normalverteilung ist nur einen Mausklick entfernt. Schließlich bietet die Bibliothek kostenfreies WLAN.

Im großen Lesesaal der Bibliothek sitzen die verschiedensten Menschen. Da gibt es jene, die mit einer Hand wild auf den Tasten herumklopfen, während sie mit der anderen in zehn Ordnern gleichzeitig wühlen und dabei beinahe ihre Wasserflasche umwerfen. Von anderen Arbeitsplätzen hingegen erschallt gleichmäßiges sanftes Klicken: Die Hände huschen geübt im Zehnfingersystem über die Tasten. Die frisch gefüllte Wasserflasche steht außerhalb der Gefahrenzone, natürlich gut verschraubt. Ab und zu findet sich in den Reihen auch ein Nutzer, der auf einem Tablet arbeitet und einen aktiven Eingabestift geübt darüber führt.

Apropos Technik: So wie mir scheint, benötigt der Standardnutzer von heute sehr viel davon. Neben dem mit Aufklebern verzierten Laptop liegt griffbereit das obligatorische Handy, das zum Wohle aller stumm geschaltet wurde. Aus seiner Seite windet sich ein Kabel, das entweder zu zierlichen kleinen Kopfhörern oder beeindruckend großformatigen Ohrmuscheln führt. Manch einer nutzt für die musikalische Unterhaltung auch einen altmodischen MP3-Player. Auf einigen Tischen liegen Taschenrechner, auf anderen schicke Grafiktablets mit Bluetooth. Für den elektrischen Hunger all dieser Gerätschaften wurden auf den Arbeitsplätzen die Halterungen für Tintenfässer durch Steckdosen ersetzt. Mit dem Schalter daneben wird die kleine Lampe bedient, die auf Wunsch den Arbeitsbereich erhellen kann. Schließlich hat die Bibliothek bis Mitternacht geöffnet.

Im großen Lesesaal der Bibliothek sitzen die verschiedensten Menschen. Da gibt es jene, die fünf Aufgaben gleichzeitig erledigen, aus einem Buch Wortfetzen abtippen, nebenbei ein Video schauen und per Handy für Samstag eine Grillparty organisieren. Über anderen Arbeitsplätzen hingegen schwebt eine dicke Glocke der Konzentration: Die grauen Zellen fokussieren sich vollends auf die Seminararbeit, die nächste Woche Freitag abzugeben ist. Ablenkungen jeder Art sind unerwünscht, deswegen werden auch Ohrstöpsel getragen, natürlich in einem dezenten Hautton. Ab und zu findet sich in den Reihen auch jemand, der eine kleine Pause einlegt und gedankenverloren an die Decke starrt.

Da wir gerade bei den verschiedenen Tätigkeiten sind: Was mache ich eigentlich, hier im großen Lesesaal der Bibliothek? Nun, ich sitze zwischen all den verschiedenen Menschen und auch auf meinem Arbeitsplatz liegt zu meiner Schande nur ein Laptop, jedoch kein einziges Buch. Das Handy habe ich in meinem Rucksack gelassen, der Akku ist mal wieder leer. Ich arbeite gerade an… ehrlich gesagt: an gar nichts. Ich sitze einfach nur hier, trinke kleine Schlucke aus meiner Wasserflasche und beobachte die anderen. Schließlich hat die Bibliothek viel Anschauungsmaterial zu bieten.