Perfektion in 17 Silben
Ich glaube, wenn man Künstler darum bittet Perfektion zu definieren, wird es so viele Antworten geben wie Menschen, die man befragt. Für den einen ist es ein emotionaler Zustand, für den anderen ein unerreichbares Ideal und für den nächsten ein unerlässlicher Katalysator für das kreative Schaffen. Dank des Internets muss ich nicht zwingend selbst losziehen und die Künstler dieser Welt befragen, ich kann ihre Antworten in Form von Zitaten, Interviews oder sogar Ratschlägen finden. Die folgende Aussage zur Perfektion von Philip Pullman fand ich jedoch nicht online sondern im Vorwort seiner Buchtrilogie His Dark Materials:
Besides, if you want to write something perfect, write a haiku.
(Nebenbei gesagt, wenn du etwas Perfektes schreiben möchtest, schreib ein Haiku.)
Ein Haiku ist ein sehr kurzes Gedicht. Die traditionelle Form, die in Japan entstanden ist, besteht aus 17 Silben*, welche in drei Zeilen (eigentlich Spalten) mit genau 5-7-5 Silben angeordnet sind. Thematisch beziehen sich die klassischen japanischen Werke auf die Gegenwart, die Natur, das Erleben eines Augenblicks, eine Momentaufnahme. Die Haijin (Autoren) integrieren dabei auch Wortspiele, Emotionen oder gar Bezüge zum Übernatürlichen. Auf mich wirkt es fast ein bisschen wie die lyrische Miniaturvariante eines impressionistischen Bildes. Im Laufe der Zeit hat sich das Haiku zu einer beliebten Kunstform entwickelt und Autoren vieler Sprachen versuchen sich an diesem Kurzgedicht.
Aufgrund der formal festgelegten Kürze kann es einem Schreibenden schon so vorkommen, als wäre es ein Leichtes, ein perfektes Haiku zu erschaffen. Was sind schon 17 Silben? Jeder Haijin, der schon einmal monatelang an einem Wort oder Ausdruck feilte, würde allerdings widersprechen und erklären, dass es gerade die Kürze ist, die Perfektion so schwierig macht. Ich vermute, dass Philip Pullman diese Tatsache sehr wohl bewusst war, als er sein Vorwort schrieb. Genauso wie er weiß und zugibt, dass sein Buch nicht perfekt ist, aber das läge nun mal in der Natur der Sache. Wer perfekt sein will, wird niemals fertig. Oder eben nur in 17 Silben.
Ich selbst habe noch keine Definition für Perfektion gefunden. Vermutlich, weil ich sie nicht zwingend anstrebe. Mir ist es viel wichtiger, dass die geschriebenen Worte meine Vorstellungskraft anregen, Bedeutung enthalten und mich emotional berühren. Wenn mich ein Kapitel kalt lässt, dann ist es nicht fertig. Egal, wie viele Silben es enthält.
Und jetzt entschuldigt mich, ich muss da dringend noch weiter an diesem einen Kapitel feilen…
* – Konkret müsste es Moren und nicht Silben heißen. Ich verzichte hier bewusst auf den Unterschied, um den Rahmen dieses Eintrags nicht zu sprengen. Ob nun 17 Moren oder 17 Silben, Tatsache bleibt, dass sehr wenige Worte in einem Haiku enthalten sind.