Wortfindungsstörung

Abbildung eines Buches, Thema Eiffelturm

Ich erinnere mich sehr lebhaft daran, wie ich in der achten Klasse während einer Französischarbeit nach der Vokabel für Treppe suchte. Ich wusste genau, dass sie in dem Kapitel enthalten war, in dem es um einen Besuch des Eiffelturms ging. In der zugehörigen Vokabelliste am Ende des Lehrbuchs stand Treppe auf der rechten Seite, in der rechten Spalte, drittes Wort von oben. Aber nicht nur der Ort, an dem die Vokabel stand, war mir bekannt, sondern auch, dass sie aus drei Silben bestand und mit l‘ begann. Ich konnte mich an alles rund um das Wort erinnern, aber nicht an das Wort selbst. Es war zum Mäusemelken.

Eine solche Situation kennt wohl jeder. Wir sind mitten im Gespräch, plaudern angeregt über den feuchtfröhlichen Abend bei Annekathrin, und plötzlich will uns nicht mehr einfallen, wie das Getränk hieß, dass sie so gerne trinkt und von dem sie an jenem Abend bestimmt zwei Portionen zu viel genossen hatte. Wie hieß es nur gleich? Mit Orangensaft und so einem komischen Likör. Wir haben es deutlich vor dem inneren Auge. Ja, wir können es sogar fast schmecken. (Ob wohl daher die Redewendung kommt, dass es „einem auf der Zunge liegt“?) Aber der Name fällt uns einfach nicht ein. Die Verbindung zu dem Speicherort in unserem Gehirn, der das gesuchte Wort enthält, ist aus irgendeinem Grund unterbrochen. Verzweifelt stehen wir da, ringen nach Worten und schnippen dazu gern mal mit den Fingern.

Innerhalb eines Gesprächs ist es nicht weiter hinderlich, wenn der Sprachprozessor Probleme beim Zugriff auf das interne Wörterbuch hat. Meist weiß unser Gegenüber trotzdem, wovon wir reden oder was wir meinen. Beim Schreiben ist das allerdings etwas anderes. Wie soll ich meinem Leser die Stimmung meines Protagonisten mitteilen, wenn mir melancholisch partout nicht einfallen will? Wie soll ich ihm den Ausblick aus dem Fenster beschreiben, wenn ich diese langen, dunkelgrünen Bäume zwar schon oft gesehen habe, aber nicht benennen kann? Und wer bitte kann den Hebel in meinem Hirn umlegen, damit mir dieses elende Wort endlich wieder einfällt? So kann das hier nicht weitergehen, ich will schließlich heute noch mit dem Kapitel fertig werden, verdammt noch mal!

In meiner Französischarbeit löste sich nach einigen Minuten endlich der Knoten. Erleichtert schrieb ich l’ascenseur auf das Papier. Drei Silben, L und Apostroph am Anfang, aus dem Kapitel mit dem Eiffelturm! Es passte alles. Dummerweise heißt diese Vokabel übersetzt Aufzug und nicht Treppe. Der Eiffelturm hat beides.